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Der Unerschrockene

Charakterstark und herzensgut: Zeitgenossen
erinnern sich an den Schriftsteller Franz Fühmann

BERLIN. Zuerst waren die Menschen in Märkisch Buchholz verwundert: War das ihr Franz, war das Fühmann, wie sie ihn kannten? Vor knapp einem Jahr erhielt ihr Städtchen ein Denkmal zu Ehren des Schriftstellers, der dort 25 Jahre lang gelebt und gearbeitet hatte. Die bronzene Stele zeigt ihn mit entschlossenem Blick, loser Krawatte und offenem Hemd – ein Intellektueller von Format.

Die Märkisch Buchholzer aber hatten Fühmann, der am 15. Januar 85 Jahre alt geworden wäre, ganz anders kennen gelernt: in Rollkragenpullover und Gummistiefeln, mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen. Ihr Franz war einer, der früh morgens auf seinem klapprigen Fahrrad zum Lebensmittelladen fuhr – oder auf’s Feld, um mit den Bauern Kartoffeln zu hacken. „Er war einer von uns“, sagt Irmgard Pöche, die fast zur gleichen Zeit wie Franz Fühmann nach Märkisch Buchholz zog und als Deutschlehrerin engen Kontakt zu ihm pflegte.

„Alleinsein und Ruhe“ hatte der Schriftsteller damals zum Arbeiten gesucht, und „vor allem eine Luft, die ich atmen kann“. In Berlin, wo er mit Frau und Tochter am viel befahrenen Strausberger Platz wohnte, war daran nicht zu denken. In Märkisch Buchholz hingegen fand Fühmann, was er suchte. 1959 pachtete er ein geducktes Häuschen mitten im Wald, einen Bungalow eher, in dem er unter anderem die autobiographischen Trakl-Betrachtungen „Vor Feuerschlünden“ und sein Ungarn-Tagebuch „Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens“ verfasste. „Er brauchte zum Schreiben nicht viel“, erinnert sich Irmgard Pöche, „nur seinen Campingtisch, die Schreibmaschine und ein bisschen Papier.“

Trotz aller Abgeschiedenheit suchte Fühmann jedoch in Märkisch Buchholz schnell Kontakt zu den Nachbarn. Er freundete sich mit dem Taxifahrer an, der ihn ab und zu in die Hauptstadt mitnahm, und mit der Postfrau, die fast täglich Briefe vorbeibrachte. Der Pfarrer und die Gärtnersfrau teilten eines eisigen Winters ihre Kohlen mit ihm, er brachte dafür Geschenke von seinen Lesereisen im Westen mit.

Am häufigsten aber und am liebsten ging Fühmann zu den Kindern. „Wenn er etwas Neues geschrieben hatte, kam er zu uns in die Schule und probierte es aus“, erzählt Irmgard Pöche, „er war ein glänzender Vorleser.“ Der Autor erkannte genau, wann er an seinen jungen Zuhörern vorbeigeschrieben hatte – und änderte jene Stellen umgehend. „Herrliche Kinder sind das“, schwärmte Fühmann einmal, „so geduldig.“ Immer wieder formulierte er um und probierte aus, tippte Absätze neu und überklebte die alten Manuskriptseiten, sodass manche hart wurden wie Pappe. Gemeinsam mit den Schülern schuf er die Nacherzählung der Prometheus-Sage oder das Sprachspielbuch „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“. Da wundert es nicht, dass in einer Geschichte von einem Hut die Rede ist, „so blau wie der Wellensittich von der Nora Becker aus Märkisch Buchholz“.

Im Anbau der ehemaligen Grundschule – sie hatte 1998 den Namen Franz Fühmann erhalten, war aber fünf Jahre später geschlossen worden – hat Irmgard Pöche eine Ausstellung eingerichtet. Im alten Bücherschrank stehen jetzt Kaffeetassen für die Besucher, auf dem Tisch liegt ein dickes Album mit Zetteln und Postkarten des Schriftstellers. Bilder und Texttafeln erzählen von seinem Leben. 1922 in Böhmen geboren, meldete sich Fühmann mit 17 Jahren freiwillig zur Wehrmacht. Kurz vor Ende des Krieges geriet er in sowjetische Gefangenschaft, wo er intensiv marxistische Schriften studierte. 1949 ging er in die DDR. Dort arbeitete er zunächst als Kulturfunktionär bei der NDPD, wurde aber 1958 aus der Partei ausgeschlossen. Wenig später fand er sein Arbeitsdomizil in Märkisch Buchholz und war seither als freischaffender Schriftsteller tätig.

Das prominenteste Foto in der Ausstellung des Begegnungszentrums zeigt Fühmann bei der Arbeit in seinem winzigen Häuschen in Märkisch Buchholz: an besagtem Campingtisch sitzend, über der Schreibmaschine eine funzelige Glühbirne, daneben eine Thermoskanne mit heißem Wasser für den löslichen Kaffee. An den Wänden dicht an dicht Fotos, Grafiken, Kunstdrucke, auf einem Stuhl Decken gegen die Kälte – und überall drum herum, zerstreut oder gestapelt, auf dem Boden oder in Regalen, die bis zur Decke reichen: Bücher, Bücher, Bücher.

Etwa 17 000 Bände hat Franz Fühmann bei seinem Tod 1984 besessen. Dass diese wertvolle Sammlung erhalten blieb, ist pures Glück. Vor drei Jahren war der Bibliothekar Volker Scharnefsky in einem Antiquariat zufällig über den in Bananenkisten verpackten Schatz gestolpert. Fühmanns Tochter hatte die Bibliothek ihres Vaters kurz zuvor verkauft. Die historische Sammlung der Zentral- und Landesbibliothek Berlin erwarb die Werke – und für Scharnefsky begann eine monatelange Sortierarbeit. Denn Franz Fühmann hatte seine Bücher auf drei Orte verteilt: die Wohnung am Strausberger Platz, eine Ladenwohnung in Friedrichshain und den Bungalow in Märkisch Buchholz. Regelmäßig schaffte er Exemplare, die er für seine Arbeit benötigte, in großen Taschen von einem Ort zum anderen.

Von Ordnung, erst recht im bibliothekarischen Sinne, konnte da keine Rede sein. Volker Scharnefsky machte sich also daran, die umfassende Sammlung behutsam nach Themen zu ordnen: Geschichten aus aller Herren Länder in die Abteilung Märchen, Bildbände von Goya bis Picasso zur Kunst, die 34-teilige Marx-Engels-Ausgabe ins Politikregal. Philosophie und Psychologie, Technik- und Kinderbücher – die Schwerpunkte der Fühmannschen Bibliothek sind so vielseitig, wie das Werk des sich stetig wandelnden Schriftstellers.

Eines der interessantesten Regale enthält fünf laufende Meter Bücher mit persönlichen Widmungen, die Scharnefsky ein „riesiges Kompliment an die Person Fühmann“ nennt. Die „herzlichen Grüße“ von Günter Grass stehen neben dem „freundschaftlich“ von Hilde Domin, weiter unten Buchgeschenke von Stefan Heym, Erwin Strittmatter und Christa Wolf.

„Beim Ordnen haben wir versucht, die Bibliothek so ursprünglich wie möglich zu erhalten“, sagt Scharnefsky. Die unzähligen Zettelchen mit Anmerkungen, die in den Büchern steckten, hat er deshalb an ihrem Platz gelassen, ebenso Zeitungsartikel, Fotos, Briefe und was er sonst noch zwischen den Seiten fand.

„Fühmanns Arbeitsbibliothek war sehr lebendig“, sagt Scharnefsky, „man spürt noch seinen Fingerschweiß auf den Seiten.“ Er zieht ein Buch aus dem Regal und schlägt es auf: In kantiger, etwas ungelenker Handschrift hat Fühmann am Rand Gedanken notiert, manchmal klitzeklein und kaum zu lesen. In drei verschiedenen Farben hat er den Text unterstrichen. Von diesem lebhaften Arbeitsstil künden auch sechs mit Zetteln gefüllte Karteikästen, die in Umzugskartons darauf warten, dass jemand sie entziffert und auswertet.

In Fühmanns langjährigem Arbeitsort Märkisch Buchholz oder zwischen seinen Büchern – irgendwo muss es doch zu finden sein, dieses Besondere, das so viele Menschen für den unbequemen Schriftsteller begeistert und sie bis heute von seinen Werken schwärmen lässt. Was ist es, das die fast hundert Mitglieder des Fühmann-Freundeskreis um die Lehrerin Irmgard Pöche zusammenhält? Sie veranstalten Lesungen, setzen sich für mehr Fühmann im Schulunterricht ein und für eine Gedenktafel am Strausberger Platz.

„Es ist die Tiefe seiner Sprache“, sagt der Schriftsteller Paul Alfred Kleinert, der die internationalen Kontakte des Freundeskreises pflegt. Ihn fasziniert, wie Fühmann mehrere Ebenen ineinander webt und den Leser an diesem Prozess teilhaben lässt. „Es sind seine Ehrlichkeit und sein Humor“, sagt Irmgard Pöche. Fühmann habe sich wie kaum ein zweiter mit seiner eigenen Vergangenheit auseinander gesetzt, habe sich immer wieder hinterfragt. Und er sei ein unerschütterlich positiver Mensch gewesen, noch auf dem Krankenbett habe er, vom Krebs gezeichnet, heitere Kasperltheaterstücke verfasst.

„Für mich war Fühmann eine moralische Instanz“, sagt Volker Scharnefsky. Standhaft und unerschrocken habe er nach Alternativen zur kleingeistigen Kulturpolitik der DDR gesucht. „Fühmann war wie ein guter Freund“, meint der Bibliothekar, „mit seinen Büchern überstand man den grauen Alltag und wusste: Ich bin nicht allein.“

ENDE

in: Märkische Allgemeine Zeitung, 13. Januar 2007