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Ehebruch für die Kunst

Über die Boulevardpresse kam der Arzt Anton Tschechow zum Schreiben

BERLIN. „Nach Moskau, nach Moskau!“ Das ist nicht nur der Ruf der drei Schwestern aus der Provinz, die sich in Tschechows berühmtem Drama nach Abwechslung sehnen. Diese Sehnsucht hatte schon den Gymnasiasten in Taganrog ergriffen, der später zum russischen Meister der Kurzgeschichte werden sollte. Wie sehr verachtete Anton Tschechow seine Geburtsstadt im Süden Russlands. Wie oft schimpfte er über ihre schmutzigen Straßen und stumpfsinnigen Bewohner. Und wie hart schlug er in Moskau, der verklärten Hauptstadt, auf dem Boden der Realität auf.

In einem nasskalten Keller hauste dort, nach dem Bankrott aus der Heimat geflohen, Tschechows Familie: der Vater ein Tyrann, die Brüder Herumtreiber, die Mutter eine vom Leben aufgezehrte Frau. Alle Hoffnungen ruhten auf dem 17-jährigen Anton. Er schrieb sich an der Medizinischen Fakultät ein, um als Arzt die Familie zu ernähren. In der Not griff er zur Feder und verschickte Kurzgeschichten an humoristische Blätter. Für die erste, gedruckt 1880, bekam er fünf Kopeken pro Zeile.

Also verfasste Tschechow weiter Satiren, Anekdoten, heitere Skizzen. Der knappe Stil, für den er heute berühmt ist, ergab sich aus der Notwendigkeit, mit wenigen Zeilen die Pendler im Zug zu unterhalten. Anton Tschechow wurde der erste russische Schriftsteller von Weltrang, der aus der Boulevardpresse kam. Tolstoi und Dostojewski, die Meister des epischen Romans, hatten für die dicken Journale der Intelligenz geschrieben und Literatur mit politischen Gedanken verwoben. Tschechow hingegen bannte in einfachster Manier die Schwächen und die Sorgen der kleinen Leute auf Papier. Er beschrieb alltägliche Szenen – mit dem kalten Sezierblick eines Mediziners und ohne jeden Kommentar. Die Pendler waren begeistert. Und nicht nur sie. Diese Geschichten, lobte der alte Tolstoi, seien wie Spitze, geklöppelt von einem keuschen Mädchen, das alle Liebe in die Arbeit legt.

Nach sechs Jahren hatte Tschechow genug verdient, um mit seiner Familie in ein zweistöckiges Haus am Moskauer Gartenring zu ziehen. Dort wird heute sein Andenken bewahrt. Im Erdgeschoss richtete er eine Arztpraxis ein, im Salon darüber spielte der Bruder Klavier, traf sich die Schwester mit ihren Freundinnen. Erst am Abend funktionierte Tschechow sein Sprechzimmer zur Schreibstube um. Dann verließ er seine „rechtmäßig angetraute Ehefrau“, wie er die Medizin nannte, und widmete sich seiner Geliebten, der Literatur. Er würde sie bald verlassen, dessen war er sich sicher. An einen Freund schrieb er: „übrigens ist es keine Wonne, ein großer Schriftsteller zu sein. Es ist ein trübsinniges Leben. Arbeit vom Morgen bis in die Nacht, und Nutzen wenig. Geld – soviel die Katze auf dem Schwanz davonträgt.“

Doch diese Pläne hatte Tschechow ohne Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko gemacht. Der Regisseur gründete Ende des 19. Jahrhunderts das Moskauer Künstlertheater, ein Haus für das einfache Volk, das keine abgehobenen ausländischen Opern zeigen wollte, sondern zeitgenössische russische Stücke. Nemirowitsch liebte Tschechows bis dahin wenig bekannte Dramen: ihre gebrochenen Helden und deren Dialoge, in denen die Pausen genauso wichtig waren wie die Worte. Sie passten hervorragend zum Stil seiner Truppe, die das Pathos des höfischen Theaters ablehnte und sich einem neuen Realismus verschrieben hatte.

Mit der lebensnahen Aufführung von Tschechows „Möwe“ wurde das Künstlertheater 1898 zur ersten Bühne der Stadt – und der Verfasser zu ihrem literarischen Liebling. Die „Drei Schwestern“, „Onkel Wanja“ und der „Kirschgarten“ standen in den folgenden Jahren mit gleichem Erfolg auf dem Spielplan. In den Hauptrollen brillierte Olga Knipper, die Tschechow nicht nur als Autor liebte und ihn 1901 schließlich heiratete.

Nicht jeder war derart überzeugt vom Werk des schreibenden Arztes. Zu viel Melancholie schwang mit in Tschechows Beobachtungen, zu hoffnungslos erschienen seine Gestalten: trübsinnige Müßiggänger, die sich nach einem besseren Leben sehnten, ohne selbst dafür zu kämpfen. Ihr Erschaffer weist keinen Ausweg. Und so fügt sich Onkel Wanja nach einem halbherzigen Versuch des Aufbegehrens träge in sein Schicksal. Fürstin Ranjewskaja sieht teilnahmslos zu, wie man ihren Kirschgarten abholzt. Die Schwestern Olga, Mascha und Irina träumen in ihrem Provinzörtchen von Liebe und Glück in der Hauptstadt, ohne sich je auf den Weg zu machen. „Gebt den drei Schwestern Fahrkarten“, kommentierte der Dichter Ossip Mandelstam voller Verdruss, „und das Stück ist vorbei.“

ENDE

in: Märkische Allgemeine Zeitung, 29. Januar 2010