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Zu Besuch bei Tolstoi

Im Moskauer Haus des Schriftstellers lässt sich lesen wie in einem Buch

MOSKAU. Leicht macht Leo Tolstoi es seinen Lesern nicht. Anna Karenina: ein ziegelsteindickes Werk von über 1000 Seiten. Krieg und Frieden, das historische Epos über die napoleonischen Kriege und den glorreichen Sieg Russlands: zwei solcher Ziegelsteine, die Anmerkungen nicht eingerechnet. Dazu etliche Erzählungen, Novellen und Romane, endlose Tagebuchbände, fast zehntausend Briefe.

Muss das alles lesen, wer sich dem großen russischen Romancier annähern will, der am 20. November vor 100 Jahren gestorben ist? Muss man sämtliche Werke kennen, um Tolstois Verdruss über den russischen Adel zu verstehen, dem er als Graf selbst angehörte, und seine Verklärung des einfachen, bäuerlichen Lebens? Antworten auf diese Fragen finden sich nicht nur auf unzähligen eng beschriebenen Seiten. Sie finden sich auch in Tolstois Moskauer Wohnhaus, das in einer halben Stunde mehr über den Schriftsteller verrät als tagelanges Lektürestudium.

Es war ein einfaches Haus, das Tolstoi – mit über 50 Jahren damals bereits ein anerkannter Schriftsteller – 1882 in Moskau kaufte und in dem er die folgenden 19 Winter verbrachte. Die hölzernen Wände erdbraun gestrichen, versteckt es sich hinter einem Zaun im Weberviertel – mit Strumpffabrik und Brauerei seinerzeit nicht gerade eine feine Gegend. Tolstoi hatte den Ort bewusst gewählt, Gräfin Sofia Tolstaja hingegen war empört. Der Eindruck familiärer Idylle, den das Haus auf den ersten Blick vermittelt, trügt.

Schon auf dem Esstisch, feierlich gedeckt für die Eltern und ihre neun Kinder, offenbart sich die Spaltung der Familie: Neben der Suppenterrine für Sofia Andrejewna und ihre Söhne steht eine kleine Schüssel für Tolstois vegetarisches Mahl. Zum Frühstück bevorzugte der Hausherr Gerstenkaffee und Grütze, die er auf einem kleinen Ofen erwärmte. Das Holz zum Feuern hackte er selbst, Wasser holte er mit einem Handwagen aus der Moskwa.

Eines Grafen unwürdig sei das, schimpfte seine Frau, was sollten die Leute denken? Sie bemühte sich, gab Gesellschaften im großen Salon. Tschechow und Gorki lasen hier aus unveröffentlichten Werken, Rachmaninows Klavierspiel begleitete den Bass Fjodor Schaljapins, lange bevor dieser in Europa zum gefeierten Opernstar wurde. Tolstoi saß dabei, in sich versunken – und zog sich bald in den hinteren Teil des Hauses zurück.

In einer Ecke unterm Dach lag dort sein Arbeitszimmer, ein stilles Refugium. Zwischen kahlen Wänden schrieb Tolstoi beim Licht einer einfachen Kerze: die "Kreutzersonate", den "Tod des Iwan Iljitsch" und den Roman "Auferstehung", für den ihn die orthodoxe Kirche exkommunizierte. Sofia Andrejewna kopierte die Entwürfe ihres Mannes ins Reine und bereitete mit glühendem Eifer eine Gesamtausgabe seiner Werke vor – ein Vorhaben, dass dieser leidenschaftlich hasste, wollte er doch nicht einmal für ihre einfache Veröffentlichung mehr Geld nehmen.

Bei aller Disziplin – der Graf setzte sich täglich Punkt neun Uhr an den Schreibtisch, nach Leibesübungen an der frischen Luft und nachdem er den Boden gefegt hatte – offenbart sich in seinem Arbeitszimmer eine unvermutete Seite Tolstois. Als er immer schlechter sah, sägte er kurzerhand die Beine seines Schreibtischstuhls ab, um näher am Papier zu sein. Der große russische Realist, der sich um Konventionen nicht scherte, der in Leinenkittel und weiten Hosen durch die Hauptstadt lief, war zu eitel, eine Brille zu tragen.

ENDE

in: Zürcher Landzeitung, 20. November 2010