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Nur ein paar bunte Sterne

Nichts hören und kaum sehen: Wie taubblinde Kinder den Alltag meistern

POTSDAM. Guten Morgen zu wünschen, ist gar nicht so schwer. Daumen und Zeigefinger formen einen Kreis, wie bei einem Spitzenkoch, der seine Gerichte anpreist: „gut“. Für den „Morgen“ beschreiben die Hände ein ausladendes Halbrund, der aufgehenden Sonne gleich. Das verstehen zumindest diejenigen, die noch ein klein wenig sehen können.

Die Lehrer in der Taubblindenschule des Potsdamer Oberlinhauses begrüßen jedes Kind einzeln, mit ausladenden Gesten, mit einem Handschlag, einer Umarmung. Sie haben sich zum Morgenlied versammelt, singen für jeden Schüler eine Strophe und geben ein silbernes Glöckchen herum, das der läutet, dessen Name erklingt: Josi, Maik, Susi, Natalie und all die anderen. Hier muss alles ein wenig deutlicher sein als anderswo. Deshalb beginnt der Tag mit Gesang, deshalb sind die Bilder an den Wänden dreidimensional und die Gegenstände groß und bunt.

„Kaum ein Kind hier ist hundertprozentig taub und blind zugleich“, sagt Schulleiter Torsten Burkhardt. Doch wenn ein stark sehbehinderter Mensch, der umso mehr auf seine Ohren angewiesen ist, auch noch einen Gehörschaden hat, schränkt ihn das enorm ein. „Das ist mehr als eine bloße Addition“, sagt Burkhardt. Die meisten Schüler sind zusätzlich geistig behindert, manche mehr, manche weniger stark. Wenige sind überhaupt in der Lage, die Blindenschrift zu erlernen. Solche Kinder brauchen besondere Pflege, und die bekommen sie in der Taubblindenschule. 36 Schüler von sechs bis 21 Jahren werden hier unterrichtet, drei oder vier in einer Klasse.

Josi, die eigentlich Josephine heißt, ist nach dem Morgenkreis sitzen geblieben. Sie legt den Zeigefinger an die Lippen, schaut an die Decke und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Wo alle anderen um sie herum so fröhlich sind. Ein Finger an die Lippen – in der Gebärdensprache bedeutet das „rot“. Rot ist Josis Lieblingsfarbe. Sie trägt eine rote Jacke, hat eine leuchtende Schleife im Haar und die Nägel lackiert. Die 20-Jährige kann fast nichts hören, hat autistische Züge und wird oft aggressiv. Jetzt aber ist sie einfach nur untröstlich. Dabei geht es zum Reiterhof, das mag sie doch so gern.

„Autistische Menschen haben kaum ein Zeitgefühl, sie leben einfach im Moment“, sagt Yvonne Gutschmidt, Josis Betreuerin. Hey, fragt sie mit nachdrücklichen Handbewegungen, was ist los? Sie dreht Josis Gesicht zu sich, damit die ihr in die Augen sieht. Und wenn die Traurige, wie jetzt, nicht antworten kann, nimmt sie sie einfach in den Arm.

Jeden Montag fährt Yvonne Gutschmidt mit zwei Schülern zum Reiterhof. Die 35-Jährige aus Brandenburg, eine herzliche Frau voller Energie, hält viel von dieser Art der Therapie. „Man denkt sich in Räumen so viel aus“, sagt sie, „bastelt Tastbretter, schafft Erlebnisstrecken – dabei hat man all das in der Natur.“ Neben Josi hat sie heute Maik ins Auto gesetzt. Der 16-Jährige hört deutlich besser als Josi, ist aber nahezu vollständig blind.

Den Reiterhof erkennt er trotzdem ohne Mühe. Im Stall riecht es scharf nach Pferdemist. Lara, die alte, träge Hündin und seine spezielle Freundin, streift sein Bein. Dann wird eine Bilderbuchstute von der Koppel geholt, mit langem weißen Pony über den braunen Augen – und so gutmütig, dass sie nicht einmal zuckt, als Maik ihr voll überschwang aufs Hinterteil trommelt.

Josi nimmt eine Bürste und fängt an, das Pferd zu striegeln. Sie arbeitet mit ernstem Blick und sehr konzentriert, manchmal summt sie dabei. „Sie ist sonst so antriebslos“, sagt Yvonne Gutschmidt, „hier kommt sie endlich mal in Aktion.“ Als Lara mit der Schnauze an ihr Knie stupst, nestelt Josi an ihrer Jackentasche und holt einen Leckerbissen heraus. „Sowas hätte sie früher nie gemacht“, flüstert Gutschmidt voller Stolz. Auch Maik hat eine Bürste bekommen. Doch er ist eher damit beschäftigt, am Winterfell zu riechen, das die Stute gerade verliert. Seine Hand, sonst meist zur Faust geballt, liegt gelöst auf dem Pferderücken. Manchmal legt er seinen Kopf daneben. Und lächelt. Maik, der oft so verbissen schaut und nervös mit den Zähnen knirscht.

Den Stall ausmisten, Hufe auskratzen – es sind nicht nur leichte Tätigkeiten, die Maik und Josi auf dem Reiterhof erwarten. „Sie lernen hier, Verantwortung zu übernehmen“, sagt ihre Betreuerin, „und dass man auch mal Unangenehmes tun muss, bevor der schöne Teil kommt.“ Der schönste Teil ist ohne Frage das Reiten. Noch ist es auf der Koppel kühl, doch die Sonne steht hell am frühlingshaft blauen Himmel. Maik blinzelt ihr zu, hält die Hände vor die Augen und zieht sie schnell wieder weg. Ganz hell und ganz dunkel – das ist das Einzige, was er erkennt. Oder er drückt sich fest mit dem Finger auf die Augen, dann sieht er bunte Sternchen. Jetzt muss er die Zügel halten. Er kneift der Stute in die Nase. Streicht erst ihr über das Ohr und dann sich selbst.

Josi ist aufgestiegen und sitzt aufrecht im Sattel. Die Reitkappe sitzt ihr viel zu tief im Gesicht, nach zwei Runden wird sie abgestreift. Heute ist ein Fotograf dabei, da will Josi gut aussehen. Der rote Fleck auf ihrer Stirn rührt nicht etwa vom Helm, der scheuert, sondern von den Momenten, in denen das Mädchen nicht so entspannt ist wie jetzt, in denen sie ihren Kopf wild auf den Boden schlägt.

„Menschen wie Josi brauchen einen festen Plan, um sich zu orientieren“, sagt Yvonne Gutschmidt. Montag Reiterhof, Donnerstag Werken, Freitag Musik steht deshalb an der Wand in Josis Klassenzimmer. Auch zum Einkaufen haben Josi und Yvonne früher immer einen großen Plan mitgenommen: eine Mappe zum Aufklappen, in die sie kleine Kärtchen klebten. „Tomaten, Brot, Hackfleisch“ stand dann da, dazu die entsprechenden Gesten der Gebärdensprache. „Josi muss lernen, sich klarer auszudrücken, sich besser zu verständigen“, sagt ihre Betreuerin. Denn im nächsten Jahr wird sie die Schule verlassen, weil sie zu alt ist. Zumindest das Einkaufen klappt inzwischen schon ohne Plan.

Die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen so gut es eben geht zur Selbstständigkeit zu erziehen, ist das oberste Ziel der Lehrer an der Taubblindenschule. Jeder Schüler erhält deshalb monatlich ein Taschengeld. Gemeinsam mit dem Betreuer kann er davon zum Beispiel Lebensmittel kaufen. Und dann wird Kochen und Backen geübt. Oder Bügeln und was man sonst noch so alles können muss.

Große Unterstützung leistet dabei die jüngste Mitarbeiterin des Hauses. Emma ist erst vier Monate alt und fast ebenso lange hier. Mit ihrem neongelben Jäckchen – „Assistenzhund“ steht darauf – und den unschuldigen Kulleraugen ist die Labradorhündin der unangefochtene Star der Schule. Wenn Yvonne Gutschmidt in der Pause mit ihr über den Hof geht, ist sie im Nu von Kindern umringt. Allen zaubert Emma ein Lächeln aufs Gesicht, selbst die Schüchternsten überwinden sich zu einem leisen „Darf ich mal streicheln?“

Yvonne Gutschmidt lässt sich im nächsten Jahr zur Therapiebegleithundeführerin ausbilden. „Tiere haben eine extrem positive Wirkung auf die Kinder“, sagt sie. Auf Josi zum Beispiel, die sich an Regeln und eine gewisse Disziplin gewöhnt, wenn sie Emma füttert oder mit ihr in den Park geht. Oder auf Susi. Bevor Emma kam, hatte sie eine fast panische Angst vor Hunden. „Da war mir schon etwas mulmig“, erzählt Gutschmidt. „Aber dann kam ich mit Emma herein, Susi beugte sich herunter, roch an ihr – und lachte! Das war so bewegend.“ Das Mädchen sei inzwischen viel gelassener, wenn ihm in der Nachbarschaft Hunde begegneten, schrieben die Eltern kürzlich an die Schule.

Ob mit oder ohne Emma: Ein Tag in der Taubblindenschule des Oberlinhauses ist klar strukturiert. In der Werkstufe, in der die älteren Schüler wie Josi lernen, kündet eine Wandleiste vom Unterricht – und bietet Sehbehinderten Orientierung auf dem Flur. Gegenüber dem Keramikraum zieren Spiralen aus Ton die Wand, vor dem Zimmer für textiles Gestalten hängen Bäumchen aus Stoffstreifen und bunte Bommeln, etwas weiter hinten Formen aus Holz und Metall: der Werkraum.

Wenn sie keinen Fachunterricht haben, bleiben Josi und ihre drei Klassenkameradinnen in ihrem Raum. Sie schneiden Briefmarken aus gebrauchten Umschlägen, die an Philatelisten verkauft werden. Josi bastelt eine Pinnwand aus Kork. Natalie, die nicht nur taubblind ist, sondern auch stark geistig behindert, sitzt daneben, die Füße auf einem Massagekissen. „Natalie erfährt viel über körperliche Wahrnehmung“, sagt Gutschmidt. Sie liegt oft im Musikzimmer auf dem hölzernen Klangkasten, der nicht nur Töne, sondern auch deren Vibrationen überträgt.

Gegen zwei Uhr ist der Tag in der Schule zu Ende. Natalie zieht ihre Jacke an, die immer offen bleibt, weil sie die Reißverschlüsse kaputtgebissen hat. Josi schiebt eine Klassenkameradin im Rollstuhl zum Bus. Sie selbst wohnt in einem Heim auf dem Oberlin-Gelände. In ihrem Zimmer hängt über dem Bett ein luftiger Schleier aus rotem Tüll. Auf dem Regal steht ein Foto: Josi lachend in einem bunten Sommerkleid. Es ist schon ein paar Jahre alt, sie war noch schlank damals. Jetzt hat sie stark zugenommen, wegen der Medikamente gegen die Aggressionen.

Josi verabschiedet sich mit ihrem speziellen Zeichen, halb Gebärdensprache, halb Eigenkreation. Den Daumen streckt sie nach oben: „Super“, das versteht jeder. Yvonne Gutschmidt antwortet mit dem gleichen Zeichen. Und wenn sich die beiden Daumen kurz an der Spitze berühren, dann ist Josi zufrieden.

ENDE

in: Märkische Allgemeine Zeitung, 3. Februar 2007