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Fern der Steppe ohne Heimat

Spätaussiedler aus Kasachstan zwischen Heimweh
und Hoffnung

AUGSBURG. Manchmal, ganz selten, wird sie ernst. Schweigt, dreht das Küchentuch zwischen den Fingern und starrt auf ihre Hände. Oder in den Innenhof des grauen Wohnblocks. Oder sie sagt leise, kopfschüttelnd: „Es wäre doch unnormal, würde ich mich nicht sehnen nach meiner Heimat, nach Kasachstan.“ Dann lächelt sie wieder. Schiebt resolut die Teetassen zusammen und sieht aus, als sei sie glücklich: freundlicher Blick, weiße Zähne, Lachfältchen um die blitzenden Augen.

Vor drei Monaten erst ist Valentina Deibel als Ehefrau eines Spätaussiedlers mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen. Der Birkenhof in Augsburg ist das dritte Lager, in dem sie wohnt. Ein Jahr noch, hört man, dann wird ihr Mann Georg endgültig als Spätaussiedler anerkannt, erhält die entsprechende Bescheinigung und den Registrierschein. Er wird ein Paragraph-Vierer werden, Sohn Andrej wohl ein Siebener.

Valentina versucht Gesetze zu erklären, die sie selbst nicht versteht. Die 17-jährige Alessia, die Andrej noch im Winter geheiratet hat, wird als Ausländerin wohl nur den Achter kriegen. Dann muss sie sich alle drei Monate auf dem Amt melden. Sie bekommt auch nicht die so genannte Eingliederungshilfe, die das Arbeitsamt den übrigen Deibels sechs Monate lang zahlt – knapp 1000 Mark pro Kopf. Dafür macht sie bald DIKQA, den Deutsch-Integrationssprachkurs zum Qualifizierenden Hauptschulabschluss. Richtig gewollt haben sie das nicht. Länger als die meisten hatten die Deibels in Kasachstan ausgeharrt und darauf gehofft, dass vielleicht alles doch noch besser würde.

Die beiden Zimmer in der kleinen, sauberen Wohnung sind karg eingerichtet. Viel durften sie aus der Heimat nicht mitnehmen – die Fluglinie transportiert nur 20 Kilo Gepäck pro Person. Vier Betten mit Metallgestell gehören im übergangswohnheim zum Inventar, der Rest ist zusammengeschenkt: die kleine braune Truhe und der Fernseher von der Tante, die überdimensionale Kunstpflanze von der Schwester. Die kleinen öfchen in jedem Zimmer erinnern Georg Deibel in Kasachstan: „Da haben wir uns auch solche Dinger ins Zimmer gestellt, mit dem Rohr aus dem Fester, falls im Winter die Heizung abgestellt wird.“

Ansonsten erinnert nur noch ein Amateurvideo an die riesige Republik südlich der Russischen Föderation: endlose Steppe, über die im Winter eisige Stürme fegen und die im Sommer unter sengender Hitze glüht. Dorthin hatte Stalin während des Zweiten Weltkrieges Russlanddeutsche und andere unliebsame Minderheiten verbannt. Von den eine Million Deutschstämmigen sind heute noch 200 000 geblieben. Alle anderen sind gleich nach der Perestroika emigiert. Sie haben ein Land verlassen, in dem mehr als die Hälfte der Bevölkerung in absoluter Armut lebt, in dem die Inflationsrate zeitweise 2000 Prozent übersteigt und Gehälter oft monatelang nicht gezahlt werden.

„Guck mal, erkennst Du den da?“ Der Film zeigt Familienvater Georg, den gelernten Ingenieur, und seine Söhne beim Schleudern von Bienenwaben. Monatelang schliefen sie im Sommer in baufälligen Waggons auf freiem Feld und sammelten Honig, um Geld für das Nötigste zu verdienen. Den Honig, erzählt Georg, nahm ein Betrieb ab, um damit seine Arbeiter zu bezahlen – in Naturalien. Verächtlich schüttelt der 52-Jährige den Kopf: „Was sollen die Leute mit Honig, wenn sie kein Brot darunter haben?“

In Deutschland beginnt der Arbeits- oder besser der Schultag für Valentina, Georg und Andrej früh um acht. Wie allen Spätaussiedlern finanziert ihnen das Arbeitsamt einen Deutschkurs. Sechs Monate lang, acht Stunden täglich, fünf Tage die Woche: Zuerst das Alphabet lernen, Buchstaben malen und Formulare ausfüllen, später Wohnungsanzeigen lesen und Bewerbungsschreiben aufsetzen. Der Unterricht ist hart. „Danach hat man nur noch Brei im Kopf“, sagt Valentina Deibel, die sich bisher kaum auf Deutsch verständigen kann. Alt sei sie, deshalb falle das Lernen schwer.

Trotzdem fehlt sie fast nie. Sie staunt darüber, wie gut sich der deutsche Staat um seine Bürger kümmert. Sie kann das nur nicht so gut ausdrücken. Ihre Freundin nimmt ihr das Wort aus dem Mund: „Wir haben hier Essen, der Strom wird nie abgeschaltet, heißes Wasser gibt es immer. Wir haben eine Wachmaschine und müssen nicht mit den Händen waschen. Uns geht es doch total gut.“

Wie die Zukunft aussieht? Valentina guckt aus dem Fenster. Ihr Mann zieht die Stirn in Falten: „Wer weiß das schon?“ Pläne haben sie keine, nur ein wenig Hoffnung. Auf einen Umschulungsplatz vielleicht. Später könnten sie arbeiten und eine kleine Wohnung bezahlen. Dann müssten sie nicht mehr im Birkenhof wohnen, den die 200 osteuropäischen Bewohner ihr „Klein-Russland“ nennen.

Sowohl Lehrer als auch Sozialarbeiter dämpfen solche Hoffnungen. Ihre Prognosen sind düster: Viele der Ankommenden würden sich später als Putzfrauen oder Hilfsarbeiter durchschlagen müssen. Andrej zum Beispiel, mit seinen 20 Jahren. Oder Valentina, die studierte Pharmazeutin.

Doch bis dahin sind es noch ein paar Monate. Abwarten. Tee trinken. Weil in der Küche kein Platz ist für die kleine russische Teekanne, muss es europäisch gehen, mit Beuteln. Aber „Chalwa“, eine Süßigkeit aus gepressten Sonnenblumenkernen, und gezuckerte Kondensmilch gibt es im Supermarkt um die Ecke. „Hier kann ich sogar einkaufen wie zu Hause“, meint Valentina Deibel. Und dann leiser: „Nur meine Verwandten musste ich in Kasachstan lassen. Und 49 Jahre meines Lebens.“

ENDE

in: Publik Forum, 23. Januar 2001