Der ungeliebte Dienst am Vaterland
Immer mehr junge Russen umgehen das Militär / Zivildienstgesetz fehlt
MOSKAU. Der 21-Jährige verdreht die Augen. „Morgen schon wieder Krieg – ich hab’ keinen Bock“, stöhnt Sergej Bintow*. Jeden Dienstag zieht der Moskauer seine grüne Tarn-Uniform an, bevor er zur Uni fährt. Eigentlich studiert er Elektrotechnik, aber einmal in der Woche lässt er sechs Stunden militärische Theorie über sich ergehen. In zwei Jahren, wenn er sein Hochschuldiplom in der Tasche hat, ist er dann zusätzlich Leutnant, genauer gesagt: Spezialist für Nachrichtentechnik. Und weil die Armee solche Spezialisten lange nicht so dringend braucht wie einfache Soldaten, hat er vielleicht Glück und wird nicht eingezogen.
Für seinen „Krieg“ hat der Student sich die schulterlangen Haare auf kurze Stoppeln stutzen lassen – das reicht als Dienst am Vaterland, findet er. Sergej versteht nicht, warum er mit der Waffe in der Hand seine Heimat schützen soll: „Wenn wir in den Krieg müssen, verteidigen wir doch zuerst Putin und nicht unsere Verwandten.“ Doch er hat einen weiteren Grund, den Armeedienst zu umgehen. „Die bringen einen dort um“, sagt er mit Nachdruck. Er erzählt von der „Dedowtschina“, einer im russischen Militär verbreiteten Praxis: ältere Soldaten schikanieren junge Rekruten, stillschweigend geduldet von den Offizieren. Die Rangordnung in der Kompanie wird durch Schlägereien geklärt, bei denen nicht selten der Schwächste ums Leben kommt.
Die Zahl der jungen Männer, die deshalb mit allen Mitteln versuchen, dem Militärdienst zu entkommen, steigt ständig. Einige schieben den Einberufungsbefehl hinaus, indem sie sich gleich nach der Schule an einer Universität einschreiben. Andere lassen sich wegen gesundheitlicher Probleme ausmustern. Wer genug Geld hat, kann sich auch kerngesund ein ärztliches Attest besorgen oder sich direkt beim Militärkommissariat freikaufen – der Preis liegt je nach Region bei einigen tausend Dollar.
Mittlerweile rücken jährlich nur rund zehn Prozent der russischen Wehrpflichtigen in die Kasernen ein. Die Militärkommissariate greifen deshalb zu immer drastischeren Methoden. Schließlich haben sie die strikten Anweisungen des Verteidigungsministeriums im Nacken und müssen zwei Mal jährlich mehrere hunderttausend potenzielle Soldaten abliefern.
Seit dem letzten Herbst gehen sie dabei ungewöhnlich gewaltsam vor. Junge Männer werden auf der Straße, in der Metro oder sogar im Wohnheim abgefangen. Die Moskauer Presse berichtet von Fällen, in denen Jugendliche nachts in ihrer Wohnung überrascht und zum Armeedienst gebracht worden sind. Manche konnten sich erst vom Einsatzort aus wieder bei ihren Eltern melden – einige hundert Kilometer von zu Hause entfernt. Die Vorwürfe von Menschenrechtsgruppen, es handele sich dabei um „Kidnapping auf professionellem Niveau“, weist das russische Militär weit von sich: Die Passkontrollen seien Maßnahmen im Antiterrorkampf und würden sich auf Verdächtige aus südlichen Regionen beschränken.
Sergej hat zwar schwarze Haare und dunkle Augen, wie ein Kaukasier sieht er trotzdem nicht aus. Doch auch er geriet vor kurzem in eine Kontrolle, die sich unauffällig am Ausgang der Metro postiert hatte. Der Vorfall hätte fast böse für ihn geendet: Hatte er sich doch das Recht herausgenommen, den Milizionär seinerseits nach einem Ausweis zu fragen. Prompt handelte er sich ein paar derbe Handgriffe ein. Und weil der Student nur zu gut wusste, wie ungemütlich Beamte werden können, murmelte er ein paar Entschuldigungen. Wütend machte er sich auf den Heimweg – vorbei an einem Bus mit Leuten, die nicht so viel Glück gehabt hatten wie er.
Jungen Russen, die wie Sergej aus Gewissensgründen nicht zur Armee wollen, garantiert die russische Verfassung seit 1993 das Recht auf einen zivilen Ersatzdienst. Allerdings ist bis heute kein entsprechendes Gesetz verabschiedet worden. Schuld daran sind konservative Abgeordnete und die Militärs, die im russischen Parlament eine starke Lobby haben. Erfolgreich haben sie immer wieder Lesungen verschiedener Gesetzesentwürfe verzögert.
Im Februar ist nun erneut ein Entwurf in die Staatsduma eingebracht worden. Regierung, Militärs und Liberale haben sich endlich auf einen Kompromiss geeinigt: Der Zivildienst soll vier Jahre dauern, doppelt so lange wie der reguläre Wehrdienst. Die so genannten „Alternativschiki“ können in der Nähe ihres Wohnortes arbeiten und ihren Dienst mit einem Fern- oder Abendstudium verbinden. Ihre pazifistische überzeugung müssen sie allerdings vorher vor dem Militärkommissariat beweisen. Wie das genau vor sich gehen soll, ist noch offen.
Liberale Parteien und Menschenrechtsgruppen kritisieren den Gesetzentwurf heftig. Sie werfen dem Verteidigungsministerium vor, absichtlich harte Richtlinien zu erlassen, damit junge Russen bei der Wahl zwischen Zivil- und Wehrdienst zugunsten des Militärs entscheiden. Aber egal, wie ein russisches Zivildienstgesetz schließlich aussehen mag, es wäre ein enormer Fortschritt auf dem Weg zu mehr Rechtsstaatlichkeit. Denn momentan riskieren die, die ihr Recht auf Verweigerung vor dem Gericht einklagen, in einigen Regionen Russlands mehrmonatige Gefängnisstrafen.
Sergej glaubt nicht daran, dass das Gesetz in naher Zukunft verabschiedet wird. „Lieber sollen sie offiziell 5000 Dollar von denen kassieren, die nicht zur Armee wollen“, sagt er zynisch. Das wäre zwar viel Geld für ihn, der ein monatliches Stipendium von 300 Rubel (elf Euro) vom Staat erhält und abends Internetseiten programmiert, um den Lebensunterhalt für sich und seine Mutter zu verdienen. „Aber bestechen“, meint er, „muss man das Kommissariat sowieso. Dann zahle ich lieber an den Staat als an die Beamten.“
* Name geändert
ENDE
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