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Lenin hilft heute nicht mehr

In der Geburtsstadt des Arbeiterführers blättert die Farbe

ULJANOWSK. „Lenin interessiert doch überhaupt niemanden mehr.“ Lydia Georgiewna winkt ab und verdreht die Augen. Sie lehrt an der Universität von Uljanowsk russische Literatur und würde, teilte man die Gesellschaft heute noch so ein, zur schmalen Schicht der Intelligenz gehören. „Wir haben so viel über Lenin gelernt, gelesen und gehört. Wir haben das satt, wirklich.“

In Uljanowsk, 800 Kilometer südöstlich von Moskau am Ufer der Wolga, wurde vor 130 Jahren Wladimir Iljitsch Uljanow geboren. Hundert Jahre darauf, 1970, ließ die Sowjetregierung einen riesigen Gedenkkomplex um sein Geburtshaus bauen. Jedes Jahr am 7. November, dem Jahrestag der „großen, sozialistischen Oktoberrevolution“, schüttelten sich hier feierliche Delegationen die Hände. Seit dem Zerfall des sowjetischen Machtblocks hat Uljanowsk seinen Reiz als Pilgerstätte für Kommunisten aus aller Welt verloren. In Reiseführern wird die Stadt höchstens als Relikt eines untergegangenen Imperiums erwähnt.

Dass die Perestroika schon 15 Jahre zurückliegt, wird hier allenfalls zur Kenntnis genommen, geändert hat sich seither wenig – und wenn, dann nicht unbedingt zum Positiven. „Ich kann nicht sagen, ob es damals besser oder schlechter war“, überlegt Julia Zirulowa. „Aber früher bekam man eine Wohnung und eine Arbeit, alles war viel sicherer.“ Die 21-jährige studierte Pädagogin arbeitet in der Redaktion einer kleinen Zeitung, unter einem Chef, der strenge Zucht immer noch für den besten Ansporn zu fleißiger Arbeit hält. Dort verdient sie dreimal so viel, wie sie als Lehrerin in der Schule bekommen würde. Nur so könne sie für das Kind sorgen. Ihr Mann, der beim Militär dient, hat sich freiwillig für drei Monate zum Einsatz in Tschetschenien gemeldet. Dort ist der Sold höher.

äußerlich ist in Uljanowsk die Zeit stehengeblieben. Die Asphaltdecken der Straßen sind zerlöchert, die Straßenbahnen rostig und die Schaufenster der wenigen großen Kaufhäuser lustlos ausgestattet. Sozialistische Plattenbausiedlungen prägen das Stadtbild – und Denkmäler: hoch oben auf dem alten Bahnhof ein strahlender Sowjetstern, am steilen Ufer der Wolga Lenin mit wehendem Mantel und kühnem Blick, neben ihm kräftige Arbeiter, in einer Hand die Fahne, die andere zur Faust geballt. Die Verkäuferinnen sind immer noch genauso unfreundlich wie früher, auch wenn es jetzt fast alles zu kaufen gibt. „Und man muss nicht mehr anstehen“, bemerkt eine alte Frau ironisch, „weil die Preise für die meisten sowieso zu hoch sind“. Die Menschen kaufen lieber auf dem Markt oder bei den Großmüttern, die tagein tagaus beharrlich Wollstrümpfe, getrocknete Fische und Sonnenblumenkerne anbieten.

Die Babuschkas standen nicht an den Straßenecken – damals, als die Blumen vor dem Lenin-Memorial noch gepflegt und die roten Fahnen gehisst waren. Jetzt ist der Platz vor der Gedenkstätte verlassen, die Beete sind verwildert. Das überdimensionale Memorial-Gebäude wirkt seltsam deplaziert. Der Betonklotz sollte einst die Macht der Sowjetunion symbolisieren, heute sitzt die Wärterin verloren in der großen Eingangshalle. Sie sortiert die Orden im Glaskasten, die Kataloge im Regal. Eine Eintrittskarte für drei Rubel verkauft sie selten.

An diesem Sonntagnachmittag gehen eine Mutter mit Kind und ein alter Mann durch die langen Gänge der zweistöckigen Ausstellung. Vier Museumswärterinnen begleiten die Gäste, führen sie vorbei an Wandteppichen zu Ehren Lenins, an der siegreichen Geschichte der Roten Armee, an Lenins konspirativer Vorbereitung des Aufstands. Sie schalten das Licht im Großen Saal ein, der mit seiner 17 Meter hohen Decke und den Stuhlreihen an den Wänden sakral anmutet. In der Mitte steht Lenin – überlebensgroß und aus Marmor. Fotos erzählen von der Zeit, als der Lärm von Schulklassen diese Gänge erfüllte und das Licht im Großen Saal ständig brannte.

Lenins Wohnhaus im alten Stadtkern von Uljanowsk kommt ohne die erdrückende Propaganda des Memorials aus. Mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Holzhäuser, von deren Wänden blasse Farbe blättert, verströmen in diesen Straßen einen Hauch vergangener Romantik. Sie erzählen vom vorigen Jahrhundert, als der kleine Wladimir Iljitsch hier zur Schule ging. Auf Tafeln, deren Schrift kaum noch lesbar ist, sind die historischen Orte akribisch vermerkt: Lenins Geburtstätte, die insgesamt sechs Häuser, in denen die Uljanows im Laufe der Zeit wohnten, das Simbirsker Jungengymnasium, in dem Lenin lernte, sein Internat, seine Bibliothek, die Schule seiner Schwestern.

Im Museum „Lenins Haus“ sind die spartanisch eingerichteten Zimmer der Familie Uljanow erhalten: blankgeputzte alte Möbel, eine aufgezogene Standuhr, frische Wäsche auf den metallenen Betten, die Schreibfeder im Tintenfass und an der Wand Familienfotos. Die einfache, liebevoll eingerichtete Gedenkstätte schafft, was dutzende Plakate im Lenin-Memorial nicht erreichen: Beim Anblick des Achtklässlers Wladimir auf einem vergilbten Foto wird der Besucher zum ersten Mal von einem Hauch echter weltgeschichtlicher Größe ergriffen: Dieser Milchbube sollte also einmal der große Arbeiterführer, der Vater einer Weltmacht werden.

„Wirklich, Lenin interessiert heute keinen mehr hier“, resümiert die kulturbegeisterte Lydia Georgiewna. Schließlich sei in Uljanowsk nicht nur Lenin, sondern auch der berühmte russische Schriftsteller Gontscharow geboren. Und auch Puschkin hätte sich hier des öfteren aufgehalten. Nur hat heute leider kaum ein Uljanowsker Zeit und Muße für solche schöngeistigen Gedanken. Julia Zirulowas Mann fährt in drei Wochen nach Tschetschenien „Wenn er wiederkommt, können wir uns eine Wohnung kaufen“, hofft sie und blickt seufzend ins Leere. „Falls er wiederkommt.“

(November 2000)

ENDE

in: Moskauer Deutsche Zeitung, Februar 2008