text at ulrike gruska de
tip

Zeitreise mit Panoramablick

Chruschtschows Antwort auf das Disneyland: das Moskauer Rundkino

MOSKAU. Wenn im Moskauer Kinopanorama das Licht ausgeht, dreht sich die Welt um ein halbes Jahrhundert zurück. Ein Knistern, ein Flackern, ein verruckeltes Bild. Als ununterbrochener Streifen zieht sich die Leinwand in dem kreisrunden Kino an der Wand entlang – und der Zuschauer steht mittendrin. Staunend blickt er auf das bewegte Panorama ringsum. Er fliegt mit der Kamera über schneebedeckte Gipfel, schaukelt auf einem Dampfer übers Wasser, rumpelt im Lastwagen durch den Wald. Er sieht nach vorn, nach hinten, zur Seite, dreht sich um die eigene Achse.

Das Moskauer Kinopanorama ist eine cineastische Rarität. Es ist das einzige Kino der Welt, das seit 50 Jahren Filme auf einer 360-Grad-Leinwand zeigt. In der Sowjetunion gehörte es zu den größten Attraktionen der Hauptstadt. Kaum eine offizielle Delegation, die es nicht besuchte, kaum eine Vorstellung, zu der nicht hunderte Menschen kamen. Heute kann man die Zuschauer an einer Hand abzählen. Von 20-minütigen Kurzfilmen lassen sie sich in ein Land entführen, das es nicht mehr gibt – und manch einer ahnt, dass dem charmanten alten Kino vielleicht bald das gleiche Schicksal droht.

„Es ist kein Geld da, was soll man machen?“, fragt Ludmila Wanjukowa in den fast leeren Raum. „Wir warten. Vielleicht taucht irgendwann wieder welches auf.“ Die 67-Jährige sagt das nicht resigniert, sondern nüchtern. Sentimentalität ist ihre Sache nicht. Ludmila Wanjukowa ist Filmvorführerin. Ihr ganzes Leben hat sie im Kinopanorama gearbeitet, von der Eröffnung 1959 bis zu ihrer Pensionierung vor einem Jahr. Sie kennt noch die Zeit, in der es an Geld nie mangelte in dem Haus, dessen Bau der erste Mann im Staat befahl.

Nikita Chruschtschow, sowjetischer Partei- und Regierungschef, hatte Ende der 50er Jahre von einem Rundkino im Disneyland erfahren und beschlossen: So etwas braucht Moskau auch, größer natürlich und mit besserer Technik. Auf dem Gelände der Freiluftausstellung WDNCh, wo die Sowjetrepubliken in teils pompösen, teils bizarren Pavillons ihre Errungenschaften vorstellten, ließ er in der Rekordzeit von nur drei Monaten einen Zylinder aus Ziegeln und Glas errichten. 22 Leinwände wurden darin in zwei Reihen übereinander im Kreis angeordnet – doppelt so viele wie im US-amerikanischen Vorgänger.

Um Filme für das ungewöhnliche Haus zu drehen, montierte man elf Kameraobjektive auf einen Ring und konnte so eine beliebige Szenerie nach allen Seiten hin gleichzeitig aufnehmen. In aller Eile wurde ein Drehteam losgeschickt, denn zum Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei im Juni 1959 musste der erste Film fertig sein. Die Genossen waren begeistert. Der Streifen zeigte ihr Land in all seiner Schönheit: kaukasische Berge und sibirische Wälder, tanzende Mädchen in Burjatien und die pulsierende Metropole Moskau.

Die blühende Sowjetunion – dieses Thema wurde in nahezu jedem für das Rundkino gedrehten Film variiert. Einem Exkursionsleiter gleich nahm die Kamera ihre Zuschauer mit zum Pferderennen in Abchasien oder auf einen Wolgadampfer, fuhr mit ihnen an die Traumstrände der Krim und in die turkmenische Wüste. „Die Filme zeigten den Leuten, die nicht selbst herumreisen konnten, das Land“, erklärt Ludmila Wanjukowa. Auch sozialistische Bruderstaaten wurden vorgestellt: die kleine, herausgeputzte DDR oder die ČSSR mit ihren Bierlokalen. Es waren fröhliche Streifen, die Urlaubsziele in den schönsten Farben ausmalten und Politik dabei weitgehend ausblendeten – Werbefilme für den Ostblock, die heute neben ihrem historischen Wert vor allem durch die einzigartige Kameratechnik und ausgefallene Bildkompositionen beeindrucken. Einzig der jüngste Film, gedreht 1993, widmet sich den unsicheren Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Ludmila Wanjukowa mag ihn nicht besonders. Sie denkt lieber zurück an die Zeit, in der das Kinopanorama noch bei fast jedem Moskau-Besucher fest auf dem Programm stand. „Wenn plötzlich Sicherheitsleute hinter uns auftauchten, wussten wir: Die Offiziellen sind da“, erzählt sie. Dann reihten sich die „Tschaikas“, die schwarzen Limousinen der Regierung, vor dem Eingang und mancher Besucher, der schon eine Eintrittskarte gekauft hatte, musste vorerst zurücktreten.

Oft fuhren Busse des sowjetischen Reiseunternehmens Intourist unangemeldet vor. „Und wir hatten schon alle Tickets verkauft.“ Wanjukowa versucht, eine erschrockene Miene aufzusetzen. Dabei stand sie nur zu gern hinter dem Bedienungspult unten im Saal, wenn sich statt der vorgesehenen 300 mehr als 600 Menschen Rücken an Rücken ins Kino schoben. Sie freute sich über das begeisterte „Ohhh“ der Zuschauer, das den Sprecher übertönte, wenn die Kamera mit den elf Augen unter Wasser tauchte oder im Slalom zwischen Skifahrern einen Hang hinunterzischte.

Die Filmvorführer im Kinopanorama – elf Leute pro Schicht, einer hinter jedem Projektor – arbeiteten bis zum Ende der Sowjetunion im Minutentakt: Film einlegen, Tonspur einspannen, Bild justieren. Film rausnehmen, säubern und die 600 Meter auf jeder Rolle zurückspulen, in den ersten Jahren per Handkurbel. Zwanzig Minuten Film, zwanzig Minuten Pause. Macht vierzehn Vorstellungen pro Tag an sieben Tagen pro Woche.

Heute öffnet Natalia Waschtschekina, die neue Direktorin, das Kino noch an vier Tagen in der Woche. Sieben der alten Filme sind erhalten und werden im Wechsel gezeigt. Waschtschekina verkauft Karten für fünf Vorstellungen pro Tag – theoretisch. Praktisch bleibt die Leinwand oft schwarz, weil keiner kommt: an Wochentagen und wenn das Wetter für die Spaziergänger zu schlecht ist, die nach wie vor gern über das Gelände der einstigen Freiluftausstellung schlendern. Dann fegt die Direktorin die Blätter vor dem Eingang zusammen, hängt ein neues Plakat auf oder klebt einen gerissenen Film.

Zusammen mit drei Kollegen hält sie den Betrieb aufrecht, für ein eher symbolisches Gehalt. Das Kinopanorama gehört zur staatlich geförderten Gruppe „Moskauer Kino“, die elf historische Filmtheater der Stadt vereint. Staatlich gefördert? „Nun ja, ein klein wenig Geld bekommen wir, um es vorsichtig auszudrücken“, sagt Waschtschekina. Vor ein paar Jahren wurde immerhin eine neue Tür eingesetzt, kurz darauf das Dach erneuert. Ansonsten wird improvisiert. Wenn ein Kino in der Stadt einen alten Projektor ausrangiert, holt Waschtschekina ihn für das Rundkino ab. Teile des Foyers, das sich wie ein Reifen um den Vorführsaal zieht, vermietet sie an Privatunternehmer, die dort Honig verkaufen und ein Café betreiben.

Ab und zu lädt Natalia Waschtschekina die pensionierten Filmvorführer ins Kinopanorama ein. Ludmila Wanjukowa kommt dann und der 69-jährige Lew Lesin, den die neue Direktorin immer anruft, wenn sie nicht weiter weiß, weil sich der Elektromechaniker so gut auskennt. In der Mittagspause sitzen sie bei Tee, Käsebrot und Melone zwischen den Filmprojektoren. Und weil sie statt zwanzig Minuten eineinhalb Stunden Zeit haben, denken sie sich aus, was man alles machen könnte, wenn Geld da wäre.

Ludmila Wanjukowa, immer noch ganz Technikerin, würde zuerst die vergilbten Leinwände austauschen. Dann müsste ein Regisseur her, der sich zutraut, einen neuen 360-Grad-Film zu drehen. Schließlich gibt es die Kamera mit den elf Augen noch, man müsste sie nur ein wenig auf Vordermann bringen. Natalia Waschtschekina denkt an kleine Drehsessel, um die provisorischen Holzbänke mit den geblümten Kissen zu ersetzen. Man könnte den Saal an Unternehmer vermieten, die immer wieder ausgefallene Orte für Werbeveranstaltungen suchen. Man könnte zu Lasershows und Videoprojektionen einladen, wie während des Festivals für moderne Kunst vor einem Jahr. Man könnte mit dem Kinopanorama endlich nicht mehr nur in die Vergangenheit reisen, sondern in die Zukunft.

ENDE

in: Berliner Zeitung, 22. November 2009